Mein Opa hat mir von seiner Kindheit in Nazi-Deutschland erzählt. Das hier habe ich gelernt

Marius T.
14 min readMay 24, 2022

Wir müssen gerade jetzt den Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkriegs zuhören

Bild des Autors als Kind mit seinem Großvater
Bild: Foto von mir und meinem Großvater. Einige Rechte vorbehalten (CC BY-SA 3.0 DE)

(Dieser Artikel ist eine überarbeitete und aktualisierte Version eines Artikels, der ursprünglich im Februar 2017 auf comicsverse.com veröffentlicht wurde. Click here for English version. / Hier klicken für englischsprachige Version.)

Vor fünf Jahren, kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag, fand ich einen Stapel Notizen, die ich als Kind von Gesprächen zwischen meinem Großvater und mir angefertigt hatte. Karl-Heinz T. wurde 1928 als erstes Kind einer einfachen deutschen Arbeiterfamilie in Dortmund geboren. Er starb 2014 als einer der mitfühlendsten und großzügigsten Menschen, die ich je gekannt habe. Mehr noch als jede fiktive Figur, zu der ich als Kind aufgesehen habe, war er einer meiner persönlichen Helden. Obwohl ich schon immer wusste, wie wichtig diese Aufzeichnungen waren, wurde mir erst jetzt bewusst, welche differenzierten Einblicke in Autoritarismus und Klassenkonflikte die Geschichten darin zu bieten haben. Karl-Heinz gehörte zu einer nun langsam aussterbenden Generation von Zeitzeug*innen des Faschismus, deren Perspektive wir nicht ignorieren dürfen.

Proletarische Ursprünge

Mein Großvater wurde im Nachkriegsdeutschland geboren, einer Zeit, in der die deutsche Bevölkerung eine länger anhaltende Friedensperiode erwartete. Es war aber auch eine Zeit, in der die deutsche Wirtschaft unter einer Hyperinflation litt, die die Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit stürzte. „Einmal habe ich in der Schlafzimmerkommode ein Packen Reichsmark gesehen. Millionen, Milliarden von Reichsmark“, erzählte er mir 2013. „Ich habe den Moment noch genau in Erinnerung, ich sehe die Geldscheine noch vor mir. Sie hatten absolut keinen Wert. Keiner der Scheine hatte irgendeinen Wert.“ Zu dieser Zeit kostete ein Brötchen in jeder Bäckerei etwa 3 Millionen Reichsmark — und der Preis würde wahrscheinlich innerhalb weniger Tage auf 4 Millionen steigen.

Der Vater meines Großvaters war Arbeiter bei der Stahlbaufirma Aug. Klönne. Die Firma beschäftigte praktisch jeden, den Karl-Heinz kannte und der älter als vierzehn Jahre war. Kinder arbeiteten, um ihre Familien zu ernähren, und mein Großvater war keine Ausnahme. Als Kind reparierte er Schuhe und verteilte sie in der Nachbarschaft. Seine Familie war nicht wohlhabend genug, um sich eine weiterführende Schule leisten zu können, und der einzige Grund, warum er später die Mittelschule besuchen konnte, war, dass er in ein Programm für begabte Kinder aufgenommen wurde.

Diese schlechten Lebensbedingungen führten zu einer ziemlich klaren politischen Haltung in seinem Umfeld. „Ich war 5 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam“, erinnerte er sich. „Ich kann mich nur schlecht erinnern, was geschah, als ich 2 oder 3 Jahre alt war. Aber da wir aus einer Arbeiterfamilie stammten, waren mein Vater, mein Onkel — sie waren alle links.“

Die Deutschen haben es nicht richtig gemacht. Die Arbeiterklasse hat es nie verstanden, sich zu einigen.

Wie er es beschrieb, gab es in den armen Familien, die er kannte, eine allgemeine Tendenz zu kommunistischen Ansichten. Die Familie meiner Großmutter Helga ist ein Paradebeispiel dafür. In den späteren Jahren von Hitlers Herrschaft wurde ihr Cousin im holländischen Exil gefunden und wegen seiner Verbindung zum Kommunismus ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Ein kommunistischer Freund dieses Cousins, der ebenfalls die Schrecken der Nazilager überlebt hatte, traf meinen Großvater nach dem Krieg in der Straßenbahn und erteilte ihm eine kurze Lektion in marxistischem Denken. „Er sagte mir Folgendes: ‚Junger Mann, das Sein bestimmt das Bewusstsein eines Menschen.‘ Wenn du als Arbeiterkind in extremer Armut groß geworden bist, hast du ein ganz anderes politisches Verständnis.“ Karl-Heinz selbst wurde ein lebenslanger Sozialdemokrat und SPD-Wähler.

Karl-Heinz zufolge nahmen sich die deutschen Arbeiter*innen die russische Revolution und das Ende des Zarismus zum Vorbild, um sich gegen ihre kapitalistische Unterdrückung zu wehren. „Man muss sich in deutsche Kommunisten hineinversetzen: Aus ihrer Sicht konnte der Kapitalismus nicht das Richtige sein; ‚wir werden immer arm bleiben, wir haben keine Perspektive‘. Sie dachten, dass es einen Ausweg geben muss. […] Die SED hat nicht funktioniert, aber das konnte man vorher nicht wissen.“

Und doch, so stellte er fest, ist der Kapitalismus bis heute das dominante Wirtschaftssystem. Karl-Heinz hatte eine Vermutung, woran das liegen könnte: „Die Deutschen haben es nicht richtig gemacht. Die armen Deutschen — die Arbeiterklasse hat es nie verstanden, sich zu einigen. Kommunisten und Sozialdemokraten […] hatten unterschiedliche Parteien; mit dem gleichen Ziel, aber ihre Parteiprogramme haben nicht übereingestimmt.“

Der Aufstieg von Hitler

„Aber das waren alles Überlegungen [zu Klasse, Kommunismus und Kapitalismus] vor Adolf, vor dem Krieg und vor der DDR“, erzählte er mir. Karl-Heinz war noch sehr klein, als Hitler an die Macht kam. Als wir uns unterhielten, konnte er sich nicht erinnern, wann genau die Reichspogromnacht stattgefunden hatte.

Dennoch bekam er schon in jungen Jahren viel von der diskriminierenden und faschistischen Politik des Nazi-Regimes mit. „Ich wusste, wer Jude war und wer nicht. Ich kann mich erinnern: 1937 oder 1938 bin ich durch die Weißenburger Straße gegangen. Vor verschiedenen Häusern standen Möbel auf den Bürgersteigen, und die Wohnungen von Juden waren entleert. Es gab brennende Synagogen, aber da bin ich nicht hergegangen.“

Ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der 10-jährige Karl-Heinz zusammen mit den anderen Kindern seines Alters gezwungen, dem Jungvolk, der jüngeren Abteilung der Hitlerjugend, beizutreten. „Wer nicht mitgemacht hat, war ein Gegner des Hitler-Systems, der NSDAP.“ Karl-Heinz’ Vater war kein Mitglied der Kommunistischen Partei, aber er war sicherlich gegen Hitler. „‘Der Mann ist nicht gut für uns‘, hat er immer gesagt. Aber das einfache Volk“, erinnerte sich Karl-Heinz, „hat gesagt: ‚Adolf Hitler ist unser Führer, er gibt uns wieder Arbeit und er gibt uns wieder Brot.‘“

Ein Jungvolkführer unterrichtet eine Gruppe von Jungen
Bild: “Jungvolk bei Ausbildung im Kartenlesen” vom Deutschen Bundesarchiv — Bild 146–1981–053–02A (CC BY-SA 3.0 DE)

Opa beschrieb das deutsche Volk zu dieser Zeit als weitgehend unpolitisch. Sie waren leicht zufrieden zu stellen, und Hitler konnte sie zufrieden stellen, indem er durch Großprojekte und Kriegsvorbereitungen neue Arbeitsplätze schuf. Bekannte der Familie wie die Schulzes vergötterten Hitler und hatten sogar ein Bild von ihm an der Wand, welches sie verehrten. Eines Tages ging Karl-Heinz zum Dortmunder Hauptbahnhof, wo Hitler und Mussolini in einem Zug vorbeifuhren. „Alle haben mit Fahnen [des Dritten Reiches und mit Hakenkreuzen] gewunken und gefeiert. Das hat keinen wirklichen Eindruck auf mich gemacht. […] Mit 10 Jahren hast du auch nicht hundertprozentigen Durchblick. Deine Familie war gegen Adolf, also warst du auch dagegen.“

Zwischen Gehorsam und Solidarität

Aber mein Urgroßvater konnte nicht riskieren, dass seine Familie und insbesondere sein Sohn öffentlich als Regimegegner identifiziert wurden. Deshalb trat mein Großvater dem Jungvolk bei. Es gab ganze Bücher mit Liedern und Gesängen auf Hitler — die so genannten „Hitlerlieder“ -, die er auswendig lernen musste. Sie zogen in Uniformen und mit Fanfaren durch die Dortmunder Innenstadt. „Man musste antreten und marschieren, das war vormilitärisch, sogar militärisch.“

Hitlers „Volk ohne Raum“-Ideologie, der zufolge geografische Expansion notwendig und gerechtfertigt war, weil das deutsche Volk nicht genug Platz zum Leben hatte, war eine der Methoden, mit denen Karl-Heinz und Kinder in seinem Alter indoktriniert und Deutschland auf den bevorstehenden Krieg vorbereitet wurde. In den Schulbüchern wurde verglichen, wie viele Deutsche und Russ*innen im Durchschnitt auf jeweils einem Quadratkilometer lebten. Hitler würde mit dieser Ideologie die Ostexpansion und den gesamten Weltkrieg „legitimieren“, während er selbst die Opferrolle für sich beanspruchte. „Zurückgeschossen‘ [gemeint ist Hitlers Behauptung, Polen habe Deutschland zuerst angegriffen und Deutschland habe sich nur verteidigt] war eine Lüge. Deutschland hat Polen überfallen.“

„Dass ich mitmachen musste beim Jungvolk habe ich nicht als Strafe empfunden“, erklärte Karl-Heinz. „Jeden, der eine Kordel trug, den musste man grüßen, das passte mir auch nicht. Du warst der Kleine. […] Ich wusste nur später, als ich älter wurde und selbstständig denken konnte und der Krieg mit Polen begann: der Krieg war wie eine Spielerei und es war selbstverständlich, in ein Land einzumarschieren und zu gewinnen. […] Es war bald zur Routine geworden; es wurde gedacht, es würde immer so weitergehen. […] Aber als wir Russland angegriffen haben, habe ich nur das riesige Russland gesehen und mir gedacht: ‚Das war der große Fehler.‘“

Ein Ring aus rostfreiem Stahl mit den Initialen “KT” darauf
Bild: Foto des Nirosta-Rings meines Großvaters. Einige Rechte vorbehalten (CC BY-SA 3.0 DE)

Opa erzählte mir von den russischen Kriegsgefangenen, die in Aug. Klönne arbeiteten. Viele von ihnen verhungerten, weil sie kaum etwas zu essen bekamen. Ein Nazi-Anhänger in der Fabrik trat ihnen mehrmals in den Bauch. Die Bedeutung der Einheit der Arbeiterklasse scheint ein wiederkehrendes Thema in meinen Aufzeichnungen zu sein. Sein Vater und viele der anderen Arbeiter, so Karl-Heinz, behandelten die Russen mit Respekt. Sie teilten heimlich ihr Essen mit ihnen, und im Gegenzug fertigte einer der Russen einen Ring aus rostfreiem Stahl mit den Initialen meines Großvaters als Geschenk für die Familie an. Dieser „Nirosta“-Ring befindet sich noch immer im Besitz meiner Familie. Er steht für grenzenlose Arbeiter*innensolidarität.

Dortmund in Kriegszeiten

„Die Menschen in Deutschland haben während des Krieges Grauenvolles erlitten“, erinnert sich mein Großvater. Damit wollte er keineswegs das unermessliche Leid der Opfer des Holocaust und des Hitler-Regimes relativieren. Doch auch die deutschen Arbeiterfamilien in seinem Umfeld, so erzählte er, von denen viele gegen Hitler waren, litten unter den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs.

Karl-Heinz war 11 oder 12 Jahre alt, als Aug. Klönne mit dem Bau des Klönne-Bunkers begann, in den seine Familie bei jedem neuen Bombenangriff flüchten würde. Wenn sie den Bunker verließen, bot sich ihnen ein Bild der völligen Zerstörung: „Dortmund war eine Trümmerwüste.“ Trümmer auf den Straßen, brennende oder eingestürzte Gebäude — dass das Haus der Familie den Krieg bis zum Ende überleben würde, war ein Glücksfall.

Seine Schule musste evakuiert werden, und seine Klasse wurde monatelang an verschiedenen Orten im ganzen Land untergebracht. Einmal lebte Karl-Heinz zusammen mit seinen Klassenkameraden, Lehrern und Hitlerjugendführern sechs Wochen lang in einem Hotel. Wenige Tage nach ihrer Abreise brannte das Hotel bis auf die Grundmauern nieder. Seine Klasse verbrachte die Wochen und Monate danach in Offenburg. Er und ein Freund arbeiteten im Restaurant ihrer Gasteltern. Einmal besuchte er trotz seiner lebenslangen Höhenangst die Spitze des Straßburger Münsters. Karl-Heinz beschreibt seine Zeit dort als schön, aber kurzlebig. „Insgesamt haben vom Krieg in Offenburg wenig mitgekriegt. Es war eine idyllische Ruhe.“ Das sollte sich bald ändern.

Am 1. Dezember 1944 wurde mein Großvater als Hilfssoldat der Luftwaffe eingezogen. Wäre er nur ein paar Tage später geboren worden, hätte er tragischerweise nie Soldat des Dritten Reiches werden müssen. „Im Alter von 15 Jahren wurden wir wie ein 20-jähriger Soldat behandelt.“ Er tauschte seine Kleidung gegen Uniformen und Stahlhelme. Karl-Heinz wohnte mit bis zu 12 Kindern einer Hütte und schlief in dreistöckigen Etagenbetten. Ein Lehrer besuchte sie in diesen Baracken, um ihnen Schulunterricht und Hausaufgaben zu erteilen, aber der Unterricht konnte im Falle eines Voralarms jederzeit abgebrochen werden. Einmal pro Woche mussten sie für den Chemieunterricht ein zerstörtes Schulgebäude besuchen.

Das Dortmunder Stadtzentrum während des Zweiten Weltkriegs; zerstörte Gebäude
Bild: “Reconnaissance Photo Aerial View Dortmund” vom San Diego Air & Space Museum

Es war nicht ungewöhnlich, dass Soldaten aus Angst vor Gasangriffen ihre Gasmasken aufsetzen mussten — oder vom Oberfeldwebel gezwungen wurden, mit noch aufgesetzten Gasmasken zu singen. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt, die Messstaffel und die Geschützstaffel. Karl-Heinz hatte die Aufgabe, die Positionen feindlicher Flugzeuge zu ermitteln und sie an die Kanoniere weiterzugeben. Später betonte er, dass er und seine Freunde ihnen absichtlich falsche Daten gaben, um feindliche Flugzeuge zu retten.

Ein grausames Ende

Der kleine Trost, den er in dieser Zeit finden konnte, muss seine Fähigkeit gewesen sein, auf einem geliehenen Akkordeon zu spielen. „Die Musik hat sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben gezogen“, sagte er mir noch Monate vor seinem Tod. Karl-Heinz hatte autodidaktisch mehrere Instrumente erlernt und im Laufe seines Lebens sogar einige Musikwettbewerbe gewonnen, einen davon im Alter von fünf Jahren. Sein Talent blieb nicht unbemerkt. Es sprach sich bald unter den Nazi-Offizieren herum, und sie befahlen ihm, bei ihren Feiern zu spielen. Als „Belohnung“ durfte er länger schlafen — ein Privileg, das vielen anderen Kindersoldaten nicht vergönnt war.

Der Mann hatte mehrere Gliedmaßen verloren und war blutüberströmt, aber er schrie weiter.

Karl-Heinz wurde im Januar 1945, kurz nach seinem 16. Geburtstag, entlassen, nur um bald darauf wieder zum Akkordeonspielen geschickt zu werden. Am 1. April 1945, als der Krieg in den letzten Zügen lag, wurde ein letzter Befehl erteilt. Karl-Heinz wurde an die Front geschickt. „Mein Vater hat mir davon abgeraten, er hat gesagt, ich solle nicht hingehen. Er hat gesagt, ich solle mit dem Fahrrad zu meiner Mutter fahren, um mein eigenes Leben zu retten.“ Und das tat er dann auch. Er fuhr Hunderte von Kilometern nach Oberdresseldorf, den Ort, an dem seine Mutter etwa vier Jahre lang mit seinem jüngeren Bruder Dieter gelebt hatte und wo sein jüngster Bruder Helmut geboren worden war.

Die Einzelheiten seiner Reise nach Oberdresseldorf sind in meinen Aufzeichnungen nicht enthalten, aber ich erinnere mich, dass Opa sie mir bei einer anderen Gelegenheit erzählte. Es war einen Tag, nachdem der Krieg offiziell für verloren erklärt worden war, als er auf amerikanische und englische Flugzeuge traf, die immer noch kämpften. Links und rechts fielen Bomben, während er so schnell wie möglich mit dem Fahrrad fuhr. Es war ein Wunder, dass er es bis zu einem nahe gelegenen Bunker schaffte.

Als er in diesem Bunker saß und auf das Ende der Bombardierung wartete, sah er, wie ein Mann von anderen Soldaten durch die Sicherheitstür zurück ins Innere geschleppt wurde. Der Mann hatte mehrere Gliedmaßen verloren und war blutüberströmt, aber er schrie weiter: „Bitte! Lasst mich zurückgehen! Lasst mich wieder nach draußen gehen! Ich will für mein Land kämpfen! Ich will für mein Land sterben!”

Ein paar Schlussfolgerungen

Als ich anfing, über die Geschichten meines Großvaters und die darin enthaltenen politischen Lehren nachzudenken, war Donald Trump gerade als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. Ich war bei weitem nicht der Einzige, der eine Normalisierung faschistischer Elemente im politischen Mainstream befürchtete. Hunderte von Millionen Menschen wurden in dieser Befürchtung bestätigt, spätestens mit den aufrührerischen Unruhen vom 6. Januar. Und obwohl Trump (vorerst) nicht mehr im Weißen Haus sitzt, ist der Trumpismus quicklebendig. Trumpismus — das heißt: die spezielle ultranationalistische und demokratiefeindliche Form des Konservatismus, die Donald Trumps Präsidentschaft einleitete.

Was diese Variante des US-amerikanischen Konservatismus so gefährlich macht, ist die Art und Weise, wie sie als Personenkult funktioniert, wie schon viele vor mir festgestellt haben. Als solcher etabliert sie einen „starken Mann“ als die einzige legitime Informationsquelle und den einzigen rechtmäßigen Inhaber politischer Macht. Wenn man dann noch die Verehrung der „weißen Arbeiterklasse“ für die angebliche Wiederbeschaffung von Arbeitsplätzen, die extrem rassistische und fremdenfeindliche Rhetorik und die eklatante Missachtung demokratischer Normen dazunimmt, fügt sich schnell ein Bild zusammen. Der Vergleich ist zwar abgedroschen, aber dennoch fällt es schwer, sich nicht an die Familie Schulze und ihr Portrait des Führers erinnert zu fühlen.

Natürlich bin ich nicht pessimistisch oder weltfremd genug, um die heutigen politischen Verhältnisse mit denen in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg vollständig gleichsetzen zu wollen. Das heißt aber nicht, dass man aus den Worten von Karl-Heinz nicht trotzdem wichtige Schlüsse ziehen kann. Die „Großer Austausch“-Verschwörungstheorie, der zufolge weiße Bevölkerungen durch nicht-weiße Einwanderung absichtlich reduziert werden, hat in Kreisen der Neuen Rechten in verschiedenen Ländern an Boden gewonnen.

Sie ähnelt in ihrer Mythologisierung einer angeblichen Unterdrückung weißer Menschen auf bemerkenswerte Weise der „Volk ohne Raum“-Erzählung. Marine Le Pen, die von über 40 % der französischen Wähler*innen statt Emmanuel Macron gewählt wurde, bedient sich dieser Art von Rhetorik in ihrem Vorschlag für eine Verfassungsänderung, die verhindern soll, dass Einwanderung „die Identität des französischen Volkes verändert“, und in ihrer Dämonisierung muslimischer Menschen.

Erinnerung an den Nationalismus

Allerdings drängt sich angesichts des andauernden Angriffskriegs in der Ukraine ein aktuellerer Vergleich geradezu auf. Insbesondere, wenn es um die Rolle von Propaganda, Indoktrination, Täter-Opfer-Umkehr und territorialer Expansion geht. Völlig fiktive Völkermorde werden von autoritären Despoten wie Putin als fadenscheinige „Rechtfertigung“ für augenscheinliche Kriegsverbrechen herangezogen. Ich kann mir kaum vorstellen, was die von diesem Krieg am stärksten Betroffenen durchmachen müssen, und es macht mich traurig zu wissen, dass es wahrscheinlich viele Parallelen zu den Schrecken gibt, von denen Karl-Heinz berichtet hat.

Ich erfinde das Rad nicht neu, wenn ich behaupte, dass Berichte von Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkriegs die Gefahren des Nationalismus aufzeigen, aber das macht diesen Punkt nicht weniger richtig oder entscheidend. Was diese Bezeugungen in uns allen emotional auslösen sollten, ist der starke Drang, unseren Teil zum Widerstand gegen den Faschismus beizutragen und unsere Solidarität mit allen Opfern von Krieg und Autoritarismus zu teilen, und nicht nur mit weißen europäischen Opfern.

Wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, ist Widerstand gegen den Faschismus leichter gesagt als getan. Karl-Heinz und seine Familie mussten das schmerzlich erfahren. Aber wenn überhaupt, dann sollte uns die Geschichte meines Großvaters lehren, dass es eine noble Tat ist, dies zu tun. Es kann mit kleinen Dingen beginnen, wie dem Teilen des Essens mit Kriegsgefangenen, der Verweigerung von Befehlen oder der Angabe falscher Tatsachen gegenüber FLAC-Kanonieren.

Adolf Hitler und eine Gruppe von Anhängern beim Hitlergruß
Bild: “Adolf Hitler” vom Deutschen Bundesarchiv — Bild 102–13166 (CC BY-SA 3.0 DE)

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu bedenken, dass kein einziger Zeitzeugenbericht unvoreingenommen ist. Familienerzählungen spielen in der deutschen Erinnerungskultur eine zentrale Rolle, und etwa ebenso viele Deutsche sehen ihre Vorfahren als Helfer der Opfer des NS-Regimes wie als Täter. Im Lichte der tatsächlichen historischen Realität ist diese Sichtweise unglaublich verzerrt. Damit will ich nicht sagen, dass ich glaube, dass mein Großvater mich über seine Erlebnisse angelogen hat. Das glaube ich nicht, und ich habe auch keinen Grund dazu. Ich denke jedoch, dass es von entscheidender Bedeutung ist, einzelne Zeitzeug*innen nicht als alleinige Zeichner*innen eines vollständigen Bildes zu behandeln.

Die Zukunft der Linken

Im Laufe der Zeit bin ich auch etwas skeptischer geworden, was die Sehnsucht meines Großvaters nach „linker Einheit“ angeht — also der Idee, dass sich Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen aller Couleur für die Rechte der Arbeiter*innen verbünden. Das liegt vor allem an der massiven Heterogenität an Ansichten, die in der linken Hälfte des politischen Spektrums existiert. Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine haben diese ideologischen Spaltungen, auch unter deutschen Linken, wieder einmal deutlich gemacht. Die Rhetorik mancher Linken in diesem Konflikt und in anderen außenpolitischen Fragen lässt auch die Frage aufkommen, inwieweit sie wirklich in Opposition zum Autoritarismus stehen.

Auch abgesehen von diesen Ansichten über jüngste Ereignisse haben Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen meist unvereinbare Vorstellungen davon, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen würde. Und dann ist da noch der massive Elefant im Raum, dass die antikapitalistische Linke, zumindest in Deutschland, in die politische Bedeutungslosigkeit abrutscht. Im krassen Gegensatz zu dem, was Opa beobachtet hat, unterstützen nur sehr wenige Wähler*innen aus dem, was man heute als deutsche „Arbeiterklasse“ bezeichnen könnte, diese Ideen.

Dennoch gibt es einen massiven und dringenden Bedarf an einer linken Antwort auf die Trumps und Le Pens dieser Welt, damit ärmere Wähler*innen nicht an die Rechtsextremen verloren gehen — wie es in den 1930er Jahren geschah und jetzt, wenn auch in viel geringerem Ausmaß, im deutschen Osten geschieht. Und diese Antwort kann nicht einfach mehr Scholzscher, Macronscher oder Bidenscher Zentrismus sein.

Wie genau das aussehen könnte, ist zugegebenermaßen unklar. Richtig ist, dass linke Parteien und Bewegungen es zum großen Teil nicht geschafft haben, die Arbeiterklasse zu mobilisieren. In der deutschen Bundespolitik hoffe ich insgeheim immer noch auf „R2G“: eine Mitte-Links-Regierungskoalition aus Sozialdemokrat*innen, Grünen und demokratischen Sozialist*innen. Leider scheint diese Aussicht immer unwahrscheinlicher zu werden, und ich bin etwas ratlos, was die Zukunft des Progressivismus in vielen Teilen der westlichen Welt angeht.

Wie auch immer sie aussehen wird, sie muss eine bedeutende Unterstützung aus der Arbeiterklasse erhalten — da hatte mein Großvater recht. Und sie wird die gewaltige Aufgabe bewältigen müssen, sowohl Klimaziele als auch wirtschaftliche Ungerechtigkeiten anzugehen und gleichzeitig keinen Millimeter Bigotterie zuzulassen. Wir brauchen grenzüberschreitende Solidarität und eine Gesellschaft, die mit den wirtschaftlich Benachteiligten, aber auch mit allen Opfern von Krieg und Faschismus mitfühlt. Genauso wie wir die Sichtweise von Zeitzeug*innen des Faschismus wie meinem Großvater im Auge behalten müssen. Sein bestimmt Bewusstsein.

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Marius T.

Non-Binary English and Philosophy Master’s student. Writer and comics enthusiast from Germany. they/he.